Leben und Werk

Rilke Werk

Einfluss der Mutter

Phias Erziehung mag aus pädagogischer Sicht falsch gewesen sein, weil sie ihren Sohn nicht zu einer selbst bestimmten Persönlichkeit entwickelte, sich nicht um ihn sorgte, weil sie sich weigerte, die Verantwortung für den eigenen Sohn ihrer mütterlichen Position entsprechend wahrzunehmen.

Aber für den späteren Dichter war diese „Nicht-Erziehung“ von entscheidender Bedeutung. Denn in Rilkes Kindheit finden sich früh die zentralen Pole seines Schaffens: Der verweichlichte Junge mag fürs Militär ungeeignet sein, in den „Disziplinen“ Menschenkenntnis, Wahrnehmung innerer wie äußerer Welt und feingeistigen Ausdrucksformen macht ihm früh keiner etwas vor.1

Religion

«Er war im gewissen Sinne der religiöseste Dichter seit Novalis, aber ich bin nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte.» Robert Musil

Da seine Mutter ihm ein streng-katholisches Glaubensbild zu vermitteln versucht, entwickelt er eine Hassliebe zum Katholizismus2. Später, wohl auch durch seine Reisen, lernt er Gott und in der Natur zu sehen, was sich in Gedichten wie «Herbsttag» zeigt. Er hält die Beziehung zwischen dem Menschen und Gott für sehr wichtig: «Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?»

Ohne Ruhe, ohne Rast

Obwohl er sich 1895 in dem Gedicht «Volksweise» an seine böhmische Herkunft erinnert, ist Rilke zeitlebens ist Rilke immer auf der Suche nach Heimat. Beinahe jede zweite Woche wohnt und arbeitet er woanders. In seinem gesamten Leben ließ sich die zwiegespaltene Künstlerexistenz an über fünfzig verschiedenen Orten zumindest vorübergehend nieder.

Liebe zur Distanz

Auch die Erfahrung von Ankommen und Fortgehen, die Liebe zur Distanz hat Rilke ebenfalls früh bei seiner Mutter „gelernt“. So, wie Phia ihm nie wirklich nahe war und keine beständige, verantwortungsvolle Mutter war, so ist auch der erwachsene Rilke ständig auf der Durchreise und nie in der Lage, dauerhafte Freundschaften zu seinen Mitmenschen einzugehen. Seine Tochter Ruth muss meist ohne den Vater auskommen und so bleiben sie einander fremd.

Nähesucher und Distanzwahrer ist Rilke jedoch vor allem in Liebesdingen. Im Laufe seines Lebens gelang es ihm nie, ein dauerhaftes, inniges Liebesverhältnis mit einer Frau aufrechtzuerhalten. Er ist ein reiner Gefühlsmensch, lebt ausschließlich in und für Emotionen, sucht die Welt nur in Gefühlen wahrzunehmen.

Aus Liebe zur Liebe

Rilke antwortet Theodor Fontane, der seinen Gedichtband „Larenopfer“ lobt, Rilke selber allerdings als weiblich ansieht: „Sie haben durch meinen zweiten Vornamen verleitet, in mir eine Dame gesehen; dies ist nun nicht der Fall – ich bin männlichen Geschlechts und hoff mich auch im Leben stets männlich im besten Sinne des Wortes zu betätigen3! Wenig später lernt er Lou Andreas-Salome kennen, die erste von vielen Frauen, denen der Mann Rilke gefällt. Wie der Prager Dichter ist die Petersburger Schriftstellerin sehr auf ihre Individualität bedacht. 1901 löst sie die Liebesbeziehung, aber sie bleiben bis zu seinem Tod in freundschaftlichen, natürlich v. a. brieflichen Kontakt. 1928, zwei Jahre nach Rilkes Tod schreibt sie das «Buch des Gedenkens» über ihn. Rilke, der mit Kritik ansonsten schwer umgehen konnte, ließ sich von seiner russischen Freundin, die wegen der Intellektualität, die sie in zahlreichen Werken bewies, auch mit Sigmund Freud und Friedrich Nietzsche verkehrte, sogar einen neuen Namen geben: Rainer (Auch Lou hieß eigentlich Louise). Seine Gefühle stehen anfangs im Vordergrund. Emotionale Zustände wie Angst und Apathie, Begeisterung und Begierde, Schwärmerei und Schwermut sind die Koordinaten seines Seins. Verliebt ist er dabei vor allem in die Liebe selbst.

Die innige Verbundenheit zu einer Frau erlebt er nicht in der Realität, sondern nur in seiner Literatur. Die Liebe ist ihm reiner Quell der Inspiration, echte gelebte Begegnung wird sie ihm nie.

Er selbst sieht es so:
Liebe ist schwer.
Lieb haben von Mensch zu Mensch:
Das ist vielleicht das Schwerste,
was uns aufgegeben ist,
das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung,
die Arbeit, für die alle andere Arbeit nur Vorbereitung ist.

Und in ähnlicher Tonart sagt er: «Es gibt nichts Glücklicheres als die Arbeit. Und Liebe, gerade weil sie das äußerste Glück ist, kann nichts anderes als Arbeit sein. Wer also liebt, der muss versuchen, sich zu benehmen, als ob er eine große Arbeit hätte: Er muss viel allein sein und in sich gehen und sich zusammenfassen und sich festhalten; er muss arbeiten; er muss etwas werden!» Das hat Rilke von Rodin gelernt, dessen Wahlspruch «Il faut toujours travailler!» – «Man muss immer arbeiten» war.

Aber die Frauen wissen das teilweise auch und erkennen es an, Claire Goll, eine deutsch-französiche Schriftstellerin, die ihn während der Münchner Rätebewegung kennenlernte: «Er zieht die Frauen an und lehnt sie zugleich ab. Die beschwörendste Einladung enthält schon Abwehr, denn es war in ihm ebenso viel vom Mönch wie vom Verführer.»

Alle seine Geliebten sind verheiratet, was eine Ehe mit Rilke zusätzlich schwierig macht. Er selbst kann sich von Clara auch nicht scheiden, da er zwar bei der Heirat aus der katholischen Kirche ausgetreten war, das aber nicht angegeben hatte, und das österreichische Recht eine Scheidung verbot, wenn einer der Partner katholisch war.

Die Zwiespaltigkeit dieses Mannes schlägt sich auch in seiner Literatur nieder:
In der Erzählung «Die Flucht»4 will der Student Fritz mit seiner Freundin Anna mit dem Zug ausreisen, weil ihre Eltern gegen die Verbindung sind. Aber am Morgen des Aufbruchs ist sein leidenschaftliches Gefühl erschöpft: «Ich mag Anna nicht mehr.» Er geht auf den Bahnhof in der Hoffnung, dass sie nicht kommt. Als er doch sie entdeckt, flieht er zurück in die Stadt: «Dann überkam ihn eine Furcht vor diesem schwachen Mädchen, welches mit dem Leben spielen wollte. Und als bangte er, sie könnte kommen, ihn finden und ihn zwingen, in die fremde Welt zu fahren, raffte er sich auf und lief, so schnell er konnte, ohne sich umzusehen, der Stadt zu.»

Der Literat Rilke hat mit allen Bekanntschaften brieflichen Kontakt, oft bevor er sie zum ersten Mal trifft und meist auch noch lange, nachdem der persönliche beendet wurde.

Rilke ist im doppelten Sinne ein Brief-Liebhaber, Liebhaber des Briefeschreibens, Liebhaber im Briefeschreiben. Er liebt Briefe, weil er dort Distanz leben kann.

Sein Bekenntnis «Ich gehöre zu den den Menschen, den altmodischen, die den Brief noch für ein Mittel des Umgangs halten, der schönsten und ergiebigsten eins.» erhält in Zeiten von SMS, E-Mail und Twitter noch mehr Gewicht als im Fin de Siècle.

Ein Innenleben in Bildern

Der junge Rilke ist zunächst ganz bei sich. Er drückt seine Gedanken, Stimmungen und Gefühlen in Bildern aus. Die frühen Gedichte sind jedoch noch rein subjektiv, da sie im Leser kaum ebendiese Bilder, Stimmungen und Gefühle wecken.

Die Kunst, Gefühle in Worte zu fassen

Stefan George, der für Rilke eine gewisse Richtschnur in Sachen Lyrik bot, sagt ihm, dass solche Gedichte «jeder machen könne».

Ursprünglich wollte Rilke Dramatiker werden, hatte dann aber mit seinen Dichtungen wesentlich mehr Erfolg.

Auf jeden Fall erfüllt sich sein Wunsch, dass seine Werke «ein zartes Echo in Herzen hübscher Frauen» erwecken könnten.

Allgemein lässt sich eine Abkehr vom zum Realismus5 und Naturalismus erkennen, auch im Expressionismus findet er sich als Autor nicht wieder. Inspiration findet der feinfühlige Poet dagegen im Impressionismus und Symbolismus.

So, wie Fontane die Landschaften beschrieben hat – die Region der Mark Brandenburg etwa – so haben Impressionisten wie Zweig und Rilke die Menschen von innen beschrieben und dabei ihre Seelenlandschaften offenbart.

Seine Gedichte zeigen beides: Kunstsprache und Lebenswirklichkeit. Indem er die Poesie «lebt», versucht er die Wirklichkeit künstlerisch darzustellen.

Bekannt ist er für seine «Ding-Gedichte» wie «Der Panther».

Vorbild Frankreich

Vieles von Rilkes späterem Leben ist in der Kindheit angelegt, z. B. Frankreich. In dem französischen Vornamen René spiegelt sich die Sehnsucht nach der verstorbenen Schwester, denn «René» bedeutet «Wiedergeburt». Der Aufenthalt in der Grande Nation wirkt sich äußerst schöpferisch auf Rilkes Werk aus. In Paris erfährt der junge Dichter eine ähnliche literarische Initialzündung, wie Goethe sie in Italien erfahren hatte.

Der Schöpfer und seine Figur: Rainer Maria Rilke und Malte Laurids Brigge

Rilke selber bestreitet, Malte sei eine literarische Verkörperung von ihm. Allerdings ist er etwa im Alter seiner Figur, als er über sie zu schreiben beginnt. Zudem sind beide in Paris Ausländer, Malte ist Däne, Rilke stammt aus dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn. Wie Rilke sollte Malte in seiner Kindheit ein Mädchen sein und er ist ein verarmter Adliger, auch Rilke versuchte zeitlebens versucht zu beweisen, dass er aus französischem Adel stammt. Sein Onkel war tatsächlich adelig, was Rilkes Mutter, ihrem Mann immer vorwarf.

Vieldeutige Verskunst

Was macht Rilke heute noch so aktuell? Zuerst muss man feststellen: Der Zugang fällt leicht. Man kann die Texte einfach lesen und hat sofort eine eigene Interpretation. Sieht man aber genau hin, entziehen sich die Gedichte einer tieferen Interpretation. Sie können auf verschiedene Weise gelesen, verstanden und interpretiert werden. Einen Königsweg dabei gibt es nicht.

Denn es ist gerade die Vieldeutigkeit der monumentalen Gedichte, die ihn zum Klassiker macht, deshalb wirkt er heute noch so aktuell. Da ist die Melancholie, die sich durch die großen Gedichte wie «Der Panther», «Das Karussell» und «Herbsttag» zieht. Eine Melancholie, die verstörend und schön zugleich auf die damaligen wie heutigen Leser wirkt und die viele als Tiefgang empfinden.

Rilke gibt die rein subjektive Weltsicht auf und schlüpft in die Sicht des anderen.

Rainer Maria Rilke war ein zerrissener Mensch. Nicht von ungefähr lautet der Schlusssatz des Gedichts «Archaischer Torso Apollos» «Du musst dein Leben ändern.» und der Europäer am Ende des 19. Jahrhunderts scheiterte an diesem Anspruch wie so viele Menschen heute in aller Welt.

Nicht zuletzt dieser Identitätskonflikt macht ihn zu einer modernen Figur für uns heute.

All diese Dinge zusammengenommen – der leichte Zugang, die sanfte Melancholie, melodische Sprache, fundiertes Worthandwerk, den Perspektivenwechsel und die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten machen Rilkes Gedichte auf unnachahmliche Weise interessant und zu dem Klassiker, als den wir ihn heute schätzen.

 

1 Zwei Zitate von Rilke dazu: „Die Zukunft zeigt sich in uns – lange bevor sie eintritt.“ „Die Eltern sollen uns nie das Leben lehren wollen; denn sie lehren uns ihr Leben.“

2 Arme Heilige:
Arme Heilige aus Holz
kam meine Mutter beschenken;
und sie staunten stumm und stolz
hinter den harten Bänken.

Haben ihrem heißen Mühn
sicher den Dank vergessen,
kannten nur das Kerzenglühn
ihrer kalten Messen.

Aber meine Mutter kam
ihnen Blumen geben.
Meine Mutter die Blumen nahm
alle aus meinem Leben.

3 Zitatnachweis: RMR an Theodor Fontane, Frühjahr 1896, zit. nach Ingeborg Schnack, Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Band I. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1975, S. 42

4 http://gutenberg.spiegel.de/buch/823/55

5 Man stelle z. B. folgende Gedichte einander gegenüber:
Realismus:
Conrad Ferdinand Meyer

Der römische Brunnen
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Römische Fontäne
Borghese

Zwei Becken, eins das andere übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,
dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.

 

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Zitat

„Jeder schafft die Welt neu mit seiner Geburt, denn jeder ist die Welt.“

- Rainer Maria Rilke